Von Ina Rieder

Lucinda

Ich krieche auf allen vieren auf dem kalten Fliesenboden herum. Über mir ein weißes, durchdringendes Licht. Es stinkt nach Chlor. Mir ist, als würde ich auf Wolken schweben. 

Ist das der Himmel? 

Die Gedanken entgleiten mir wie schleimige Fische. Wo sind sie, meine Diamanten? Hektisch taste ich den Untergrund ab, fasse nach weißen Kristallen, die immer wieder geisterhaft verschwinden. Mein Verstand droht sich aufzulösen. 

Wie bin ich überhaupt hierhergekommen? 

Die jüngste Vergangenheit hat sich in Zeit und Raum aufgelöst. Während ich vergeblich weitersuche, rutscht meine Pfeife aus der oberen Tasche des Laborkittels. Ich habe sie vor kurzem aus einem Rundkolben, einem Reagenzglas und einem Stück Silberdraht selbst gebaut. Sie zerbricht in mehrere Teile. 

Nein, bitte nicht!

Erinnerungsfetzen kehren zurück. Ich sehe mich, über einem gläsernen Gefäß gebeugt stehen. Von unten steigt Hitze auf, Wasser, das verdampft. Natron und Ammoniak vermischen sich mit Kokain. Ein Brei, der zu weißen Kristallen aushärtet. 

Moment mal, das muss vor mindestens 25 Tagen gewesen sein.

Es waren nur 100g von über einem Kilo Kokain, das ich für mich abgezweigt habe. Mir blieb doch nichts anderes übrig! Die Flüssigkeit in dem braunen Apothekerglas war zu schnell verbraucht.

Ein Geräusch zwingt mich zur Ruhe. Wie erstarrt verharre ich. Der Blick wandert zum Türrahmen. Meine Laborkollegin.

„Lucinda? Was ist mit dir?“

Jetzt ist es endlich vorbei. Ich bin entdeckt und das Elend hat ein Ende!

Ich spüre, wie der Druck auf der Brust nachlässt.

Sie bückt sich besorgt zu mir, sieht mich fragend an. Es will sich kein Laut aus meiner Kehle formen. Sie hilft mir auf, führt mich zum Waschbecken, benetzt meine heißen Wangen mit kaltem Wasser. 

„Mir geht es gut!“

„Okay“, murmelt sie und verschwindet in einer der Toilettenkabinen. „Geh nach Hause, Lucinda. Ruhe dich aus.“

Ich suche den Boden nach den Überresten meiner Pfeife ab. Doch da ist nichts. 

Herrgott, wo sind sie?

Mein Verstand ist wieder wie angeknipst. Ich sehe mich, wie ich im geöffneten Fensterrahmen im Hinterzimmer des Labors lehne und die letzte Ration des selbstgekochten Cracks aus dem Fenster rauche.

***

Ghost

„Big Boss“ sitzt breitbeinig neben mir auf einer schwarzen Ledercouch. Er zählt über einen Glastisch gebückt, die fein säuberlich gefalteten Briefchen, die jeweils ein halbes Gramm enthalten.

„Ich schwöre dir, den Stoff bin ich im Club innerhalb einer Stunde los. Die Leute sind total heiß auf den Scheiß!“

„Yop, wir haben eben das beste Dope, Ghost! Gestern ‚Smack‘* und heute ‚Snow‘*!“ Mein Boss drückt mir grinsend die Hälfte des abgepackten, verkaufsfertigen Kokains in die Hand und ich lasse sie in der Brusttasche verschwinden. 

„Acht, wie immer. Hattest du das nicht schon gestern an?“ „Big Boss“ zupft am Ärmel meines Hemdes.

„Ich bin mit so einer Opiat-Schlampe mitgegangen und war seitdem nicht mehr zu Hause. Hab`s ihr ordentlich besorgt.“ 

„Bähm, Alter! Danach ist sie sicher ins Koma gefallen.“ Er hebt seine rechte Hand, ich klatsche zum „High Five“ ein.

„So ähnlich!“, am Morgen hat sie sich jedenfalls noch bewegt.“ 

„Hast du gestern alles vertickt? Bisher habe ich nichts von einer Überdosis in unserem Gebiet mitbekommen!“

Mir wird heiß, ich kratze mich an der Stirn, auf der sich kleine Schweißperlen bilden.

Fuck, wo habe ich den Stoff, der übriggeblieben ist? 

„Klar, wie immer“, antworte ich und versuche mir nichts anmerken zu lassen. 

„Big Boss“ verunreinigt in größeren Abständen regelmäßig Heroin und führt damit bewusst eine Überdosis herbei. Aber nie mehr als ein verkaufsfertiges Päckchen, das er dann unter die anderen mischt. Wer jenes, welches den sicheren Tod herbeiführt, bekommt, wissen wir selbst nie. Es ist mir ehrlich gesagt auch, scheißegal. Wenn der „erlösende“ Todesengel zuschlägt, spricht sich das in der Szene schneller als ein Waldbrand herum. Die „Hoffnungslosen“ rennen uns regelrecht die Bude ein und das ist gut für das Geschäft. Noch 50.000 Dollar, dann kann ich mir endlich das Haus am See kaufen.

„Ich geh pissen, verstau gleich die Ware!“, sag ich und verschwinde auf der Toilette. 

Hastig durchforste ich meine Hosentaschen. Nichts. 

Wo habe ich das Dope?

Ich fasse in die rechte Brusttasche des Hemdes, ziehe alle Portionen heraus und beginne zu zählen. Wie erwartet, acht. Hastig durchsuche ich die auf der linken Seite.

Da ist es.

Erleichtert atme ich auf und betrachte das Briefchen in meiner Hand. 

Das „Teufels-Heroin“!

Es ist das erste Mal, seitdem ich deale, dass ich weiß, welcher Stoff tödlich ist. 

So muss Gott sich fühlen.

Ich mache einen leichten Knick in der rechten Ecke des Briefchens, damit ich es von den anderen unterscheiden kann.

Nachdem ich die Hose geöffnet habe, fasse ich in den engen Slip und deponiere die Drogen unter meinen Hoden. 

***

Lucinda

Ich schleppe mich über den Gang zum Labor zurück, betrete das Hinterzimmer und sehe meine Pfeife in der Nähe des Fensters auf einem der Aktenordner liegen. 

Schnell nehme ich sie an mich und lass sie in meinem Kittel verschwinden. Schon bald werde ich Nachschub benötigen. Aus dem Labor kann ich im Moment nichts mehr abzweigen. In den letzten Tagen trafen nur kleinere Mengen an unterschiedlichen Substanzen zur Analyse ein. Es würde auffallen. 

Ich verlasse das Labor und beschließe, einen Umweg zu nehmen. Sie häufen sich – meine Abwege.

Wie tief ich gesunken bin!

Es zieht mich gedanklich zurück, zu jenem schicksalhaften Tag, an dem alles begann. 

***

Ein halbes Jahr zuvor 

Im Labor ist niemand mehr außer mir. Der Boss ist längst gegangen und meine Kollegin ist meistens die Erste, die da ist und früh wieder geht. Es gibt kaum Überschneidungen. Wir sehen uns nur selten, sind vollkommen unterbesetzt und fokussieren uns auf unsere Arbeit. Ich bin hundemüde, fühl mich seit Monaten entkräftet, energie- und lustlos. 

Es gibt niemanden, der zu Hause auf mich wartet und sich freut, wenn ich meine Wohnung betrete. Durch das gekippte Fenster dringt der Lärm der Straße an mein Ohr. Das leichte Rauschen begleitet mich schon den ganzen Tag. Die frische Luft macht den beißenden Geruch von Desinfektionsmitteln erträglicher.

Ich habe eine letzte Probe auf dem Tisch. Anstatt sie zu analysieren, starre ich seit sicher zehn Minuten auf das braune Apothekerglas, das sich prominent von den anderen abhebt. Es steht schon das zweite Jahr in einem Glasschrank und verhöhnt mich. Mein Griff, um den kühlen Laborspatel verfestigt sich. Ich bin unendlich müde!

Bis jetzt bin ich stark geblieben. Meine Neugierde steigert sich jedoch kontinuierlich. Schon in der Studienzeit hatte ich davon gelesen und begann mich für die Wirkung von Methamphetamin* zu interessieren. Nur ein einziges Mal probieren. Testen, wie es sich anfühlt. Niemanden würde es auffallen. Obwohl es Vorschrift war, wurde seit Jahren schon keine Inventur mehr in diesem Labor durchgeführt. Es fehlt an Zeit und Personal.

Soll ich oder soll ich nicht? 

Wie ferngesteuert, greift meine rechte Hand den Henkel des Glasschrankes, zieht ihn auf. Der Deckel des braunen Apothekerglases scheint sich in Zeitlupe zu heben, der Spatel taucht in die Flüssigkeit, wandert in den Mund und ein Tropfen des Liquids benetzt meine Zunge. Der erwartete Zustand tritt sofort ein. 

Wow, ich fühl mich hellwach und stark.

Die Müdigkeit ist schlagartig wie weggefegt. Ich sitze an meinem Tisch und widme mich voll konzentriert der letzten Probe. Wenn der Test positiv ausfällt, wandert derjenige, den sie damit erwischt haben für mindestens sieben Jahre ins Gefängnis. Ich bin mir meiner Verantwortung bewusst. Volltreffer!

Bevor ich das Labor verlasse, fällt mein Blick erneut zum braunen Apothekerglas. Endlich habe ich gefunden, wonach ich die letzten Jahre verzweifelt gesucht habe. Obwohl ich mir vorher geschworen habe, es nur ein einziges Mal auszuprobieren, weiß ich, dass ich es morgen wieder tun werde. Ein winziger Tropfen einer illegalen Substanz, die meine welke Welt erblühen lässt. 

Wie oft werde ich den Spatel in die Flüssigkeit tauchen können?

Sie reichte ein halbes Jahr.

***

Ghost

„Ghost?“

„Ja, ‚Big Boss‘.“

„Planänderung! Finnsbury-Park. Um den Club wimmelt es heute nur so von Polizeieinheiten.“

Im Park ist es noch ruhig. Nur wenige Laternen werfen warmes Licht auf die mit Kieselstein angelegten Wege. Ich stehe abseits an meiner üblichen Stelle unter einer alten Ulme. In ihrem Stamm habe ich die Drogen deponiert. Ich trage immer nur kleine Mengen direkt am Körper. 

Meine Laune ist gegen null gesunken. Anstatt auf der Toilette des Clubs zwei Blocks weiter, muss ich hier ausharren. Dort wäre ich die Ware im Handumdrehen losgeworden. Jetzt kann ich zusehen, dass ich Kokain an Leute verticke, die sich nach „Rocks“* oder „Smack“* sehnen. 

Schlussendlich nehmen die Süchtigen aber, was sie kriegen können. Hauptsache das „High“ stimmt. 

Ich höre das vertraute Knirschen von Kieselsteinen. Meine erste Kundin der Nacht taucht unter der Baumkrone auf. Sie wirkt nicht unbedingt, wie die üblichen meiner Stammkunden. Ihre hektischen Bewegungen und der rasende Blick verraten allerdings, dass sie dringend etwas benötigt. Es ist die Kleine aus dem Labor um die Ecke. Lucinda, ich nenne sie „Lucy with the Diamonds“, weil sie auf Crack* steht. Die schönsten, klarsten Kristalle in bester Qualität gibt es bei uns. Nur im Moment nicht. Eine unserer Drogenküchen ist aufgeflogen.

„Nur ‚Snow‘ heute, Honey!“

„Nichts Stärkeres?“

„Warte kurz“, sage ich und suche das Briefchen „Smack“ vom Vorabend heraus – das Eine mit der eingeknickten Ecke. 

Lucy without Diamonds in the sky, ist mein letzter Gedanke, bevor das prekäre Briefchen gegen Geld den Besitzer wechselt. 

V1 (9.896)

 

Methamphetamin = euphorisierende, stimulierende Rauschdroge; Snow = anderer (Straßen-)Name für Kokain; Smack = anderer (Straßen-)Name für Heroin; Rocks = anderer (Straßen-) Name für Crack = Kokain, das mit Wasser, Natron und Ammoniak erhitzt, zu Brei gekocht und letztendlich zu Kristallen aushärtet, die geraucht werden

V2